
"Alle diese Prinzipien aber, Tonalität, Poly- und Atonalität, Polyphonie und Homophonie,
Barock, Klassik, Romantik, Neobarock, Neoklassik, Neoromantik, zwölftönige und
serielle, konkrete und elektronische Musik, alle diese Prinzipien und Ausdrucksmittel
sind und bleiben Begri!e, die das Kunstwerk zwar katalogisieren aber nicht hervorbringen
können. Denn erst jenseits von Fragen des Stils, fernab von theoretischen Erwägungen und
Kriterien des Tages, im humanen Gehalt eines Kunstwerks beginnt seine bleibende Spur." Hermann Reutter
Im Jahre 1952 wurde Hermann Reutter zum Professor für Liedgestaltung an die Hochschule für Musik in Stuttgart berufen und knüpfte nach siebenjähriger Unterbrechung an seine Lehrtätigkeit an. Wenig später meldeten sich die ersten Austauschstudenten aus verschiedenen Ecken der Welt. Reutters Bereitschaft zur Ö!nung für das Fremde und sein feines Gespür für relevante Poesie ließen ihn auf die Neuerscheinungen der Lorca-Übersetzungen des Insel-Verlags aufmerksam werden. Reutter war ein erfahrener Liedkomponist,
als er Lorcas Gedichte kennenlernte. Das beeindruckende Resultat dieser Entdeckung sind insgesamt 19 Lieder aus den Jahren 1953 bis 1971. Nicht allein die Anzahl der Vertonungen, sondern auch sein anhaltendes, in Rundfunk- und Plattenaufnahmen dokumentiertes
Interesse für diesen Dichter sowie sein Text Andalusiana bezeugen Reutters besonderes Verhältnis zur spanischen Kultur und zu Lorca.
Der – neben der Sonderstellung Lorcas in Reutters Œuvre – zweite und viel persönlichere Grund meiner Entscheidung, diese Lieder in den Mittelpunkt der Arbeit zu stellen, war die Erinnerung an die Lektüre der Autobiographie von Salvador Dalí, in der ich dem Namen Federico García Lorca zum ersten Mal begegnet bin. Die geniale, keinem Denkmuster entsprechende Art und Weise des Nachdenkens über die Kunst und die Künstlerszene in Spanien während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts lenkten die Aufmerksamkeit auf diese Persönlichkeiten und blieben im Gedächtnis haften. Lorcas Texte waren für mich in der Originalsprache unerreichbar und blieben als verlockende Sprachkunstwerke in der Distanz. Die deutschen Übersetzungen bestätigten mich in meinem prinzipiell vorsichtigen Umgang mit Übertragungen von einer Sprache in eine andere. Die Vertonung eines Textes ist eine Deutung. Da Reutter offensichtlich keine Spanischkenntnisse besaß, kümmerte ihn die Frage der Authentizität der Übersetzungen nicht. Diese Lieder waren seine Interpretation der Lorca-Texte in Enrique Becks Übersetzung. Dies werde ich anhand der folgenden Fragen veranschaulichen: Wie kommuniziert Reutter das eigene Textverständnis durch seine Musik hindurch? Welches strukturelle Gefüge zeigt sich in Text und Vertonung? Wie entwickeln sich bestimmte Figuren bzw. Motive innerhalb des Zyklus? Diese und ähnliche Fragen werden mich durch die Arbeit führen. Der Schwerpunkt liegt auf den Drei Zigeunerromanzen, die Reutter zwanzig Jahre nach der Hinrichtung Lorcas vertonte. Es handelt sich um drei Gedichte aus dessen berühmtem Gedichtband "Primer romancero gitano."
Es gibt mehrere Gründe, warum ich mich auf diesen Zyklus konzentriere. Erstens handelt es sich hier um Reutters einziges Lorca-Liederheft, dessen Gedichte einem Gedichtzyklus angehören. Zweitens bin ich, wie Reutter, auf die Übersetzungen angewiesen. Da mir
Enrique Becks damals maßgebliche, inzwischen jedoch umstrittene Übersetzung für das Verständnis der Texte nicht reichte und ich die Übersetzung von Martin von Koppenfels zum Vergleich heranziehen wollte, erschien eine strikte Auswahl unumgänglich. Drittens
war mir bereits bei der ersten Betrachtung die Verbindung dieser Texte bzw. Lieder zu Franz Schubert aufgefallen. Das betrifft zunächst den "Erlkönig" (D 328), außerdem "Die gute Farbe und Die böse Farbe" (aus D 795) und zu guter Letzt Die junge Nonne (D 828). So ergeben sich auf mehreren Ebenen Wechselbezüge, denen hier nachgegangen sei.